Gedenkspaziergang zur Reichspogromnacht in Charlottenburg

Am 9. November 2025 fand ein Gedenkspaziergang statt in Erinnerung an das Geschehen und die jüdischen Opfer während der Pogromnacht vom 9. November 1938. Organisiert wurde der Gedenkspaziergang, an dem etwa 40 Menschen unterschiedlicher Altersgruppen teilnahmen, von der Feministisch-antifaschistischen Jugend-Organisation Charlottenburg (FaJOC), unterstützt von der VVN-VdA-Gruppe Charlottenburg. Während des Spaziergangs wurde über einzelne jüdische Menschen und Institutionen in Charlottenburg an ihren damaligen Wohnungen informiert, die in dieser Pogromnacht bedroht und zum Teil ermordet wurden und deren Wohnungen oder Geschäfts- und Gemeinderäume von Nazi-Faschisten zerstört wurden.

Einladungsflyer:

Rede von Uwe Bröckl

(Uwe ist Maschinenschlosser und Krankenpfleger. Er ist Mitglied im geschäftsführenden Vorstand unserer VVN-VdA Berlin e.V. Er hielt die Rede zu Beginn des Spaziergangs am Gedenkstein für die Opfer des Nazi-Faschismus auf dem Charlottenburger Steinplatz.)

Liebe Antifaschistinnen und Antifaschisten, liebe Anwesende,

mit Entsetzen fühlen sich die letzten überlebenden Verfolgten des Naziregimes, ihre Nachkommen und alle, die ihnen zugehört haben, seit Jahren an das Ende der Weimarer Republik erinnert. Der scheinbar
unaufhaltsame Aufstieg der AfD beherrscht die Schlagzeilen und Talkshows. Längst hat die AfD die Deutungshoheit übernommen.

Dennoch ist mit einem Verbot nicht die Frage beantwortet, wie die AfD so stark werden konnte. Um eine Antwort auf die Frage zu nden, warum die Rechte, Rechtsextreme und Neonazis immer stärker werden, müssen wir zurück in die Geschichte gehen.

Schon vor dem Ende des 2. Weltkrieges haben in den Konzentrationslagern Menschen aus den Gewerkschaften und Arbeiterparteien, aus KPD und SPD Forderungen aufgestellt, die dem Faschismus in Zukunft den Boden entziehen sollten. So forderten die Häftlinge in Buchenwald gleich nach ihrer Befreiung auf dem Appellplatz im Konzentrationslager: „Wir stellen den Kampf erst ein, wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der Welt steht ! Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Eine Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“

Nie wieder Faschismus – nie wieder Krieg, das war der Grundgedanke. Und die Staaten der Antihitlerkoalition einigten sich im Potsdamer Abkommen auf ein konkretes Programm, den Neuaufbau Deutschlands so zu gestalten, dass es endgültig vom Gift des Hitlerfaschismus befreit wird. Das Potsdamer Abkommen wurde in den sogenannten vier „D“ zusammengefasst:

  • Denazifizierung
  • Demokratisierung
  • Dekartellierung
  • Demilitarisierung

Was ist aus diesen vier „D“ geworden ?

Die Denazifizierung wurde nach kurzer Zeit abgebrochen und in den Verwaltungen und Ministerien, in den Schulen, bei der Polizei und in den Gerichten konnten die Nazis weiterarbeiten oder wurden in der Adenauerzeit auch wieder zurück in ihre Ämter geholt.

Und was ist mit der Demokratisierung ? Wir erleben gerade zur Zeit, dass überall unsere Grundrechte eingeschränkt werden, die Versammlungsfreiheit, die Meinungsfreiheit, die Freiheit der Wissenschaft und Kunst. Alle, die solidarisch mit den Palästinensern sind, wissen das. Jede Kritik an Israel wird als Antisemitismus geächtet und verfolgt. Ein anderes Beispiel ist das Streikrecht, das in kaum einem anderen entwickelten Industriestaat so eingeschränkt ist wie in Deutschland. Diese Einschränkungen gehen unmittelbar auf das Wirken von Juristen zurück, die schon in der Nazizeit das faschistische Arbeitsrecht kommentiert und verteidigt hatten.

Eine Kernforderung zur Durchsetzung einer antifaschistischen Neuordnung war die Forderung nach Dekartellierung. Keine Kartelle, keine Monopole, kein großes Kapital sollte mehr die deutsche Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland beherrschen. Dabei ging es nicht nur um die Entflechtung großen Kapitals, sondern um die Überführung großen Kapitals in Gemeineigentum. Doch nichts davon wurde durchgesetzt. Der Bergbau, die Eisen- und Stahlindustrie, das ganz große Kapital blieb in den Händen von Thyssen, Flick, Siemens usw.

Die Demilitarisierung Deutschlands wurde ebenfalls schon wenige Jahre nach dem Krieg aufgegeben und umgekehrt. 1955 wurden wieder die ersten Soldaten vereidigt. Mit der von Olaf Scholz ausgerufenen „Zeitenwende“ und jetzt mit einem massiven Aufrüstungsprogramm wird mit einem gewaltigen Ausmaß die Gesellschaft militarisiert. Jetzt wurde beschlossen, die jährlichen Rüstungsausgaben im Haushalt auf 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts anzuheben, 3,5 Prozent unmittelbar für die Rüstung und 1,5 Prozent für die militärische Infrastruktur. 5 Prozent sind momentan ca. 225 Milliarden €, dies entspricht in etwa die Hälfte des gesamten Haushaltes der Bundesrepublik
Deutschland.

Das Ziel des Aufbaus einer antifaschistischen Gesellschaft wurde also nicht erreicht. Wir müssen uns eingestehen : Der Aufbau einer „Welt des Friedens und der Freiheit“ ist vollständig gescheitert.

Nun könnte man einwenden : In vielen anderen Ländern sieht es nicht besser aus, obwohl es dort einen Faschismus wie in Deutschland nie gab. Bemerkenswert ist allerdings, dass es noch nie Faschismus ohne
Kapitalismus gegeben hat. Faschismus war und ist immer die ungehemmte Freiheit des großen Kapitals. Faschismus war und ist immer gegen die abhängig Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften gerichtet.
Wenn Bertolt Brecht sagte : „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“, dann meinte er genau das, was Max Horkheimer so ausdrückte: „Wer vom Kapitalismus nicht reden will, der soll vom Faschismus schweigen“. Mit Blick auf die Forderung, die AfD zu verbieten, würde das heißen:

  • Wer vom Kapitalismus nicht reden will, der soll von einem Verbot der AfD schweigen.
  • Wer Migranten massiv verfolgt, wer von Niedriglöhnen und immer weiter um sich greifender Zerstörung der Tarifbindung nicht reden will, der soll von einem Verbot der AfD schweigen.
  • Wer von der Demilitarisierung nicht reden will, der soll von einem Verbot der AfD schweigen.

Das Ziel, eine antifaschistische Gesellschaft aufzubauen, ist zwar gescheitert, hat sich aber damit nicht erledigt. Das Ziel, eine antifaschistische Gesellschaft aufzubauen, eine Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Programm, das Programm der VVN als älteste antifaschistische Organisation Deutschlands. Es ist ein Programm der Jugend und der Zukunft.

Zum Schluß noch zwei Zitate:

Unsere Ehrenvorsitzende Esther Bejarano, Holocaustüberlebende, hat einmal gesagt : „wer gegen Nazis kämpft, kann sich auf den Staat nicht verlassen.“

und der Dichter Erich Kästner sagte 1958 am 25. Jahrestag der Bücherverbrennung: ,,Die Ereignisse von 1933-1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. Später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf. Sie ruht erst, wenn sie alles unter sich begraben hat. Das ist der Schluss, den wir aus unseren Erfahrungen ziehen müssen. Drohende Diktaturen lassen sich nur
bekämpfen, ehe sie die Macht übernommen haben.“

In diesem Sinne wünsche ich uns einen guten Verlauf der Demo und bedanke mich fürs Zuhören.

Rede als Pdf

(Foto: Symbolbild, Matti Blume 2008, CC-BY-SA-2.0-DE)